Dienstag, 10. März 2009

Stichwort: Kapitalistischer Realismus

»Leben mit Pop – Eine Demonstration für den kapitalistischen Realismus«: unter diesem Motto führten die deutschen Künstler Gerhard Richter und Konrad Lueg im Oktober 1963 ein Happening in einem Düsseldorfer Möbelhaus durch. Der »kapitalistische Realismus« wollte, indem er die Realität des Kapitalismus durch Bildmotive und Dingzitate aus Werbung, Medien und Warenwelten ironisch in Szene setzte, die Konsum- und Lebensgewohnheiten der 1950er und -60er Jahre in ihren Klischees und Belanglosigkeiten zur Schau stellen und ästhetisch entlarven.
Die Ringvorlesung zur »Ethik, Ästhetik und Ökonomie in der Gesellschaft der Gegenwart« nimmt das Motto der damaligen Kunstaktion auf, um heute im Medium des gesellschaftstheoretischen und zeitdiagnostischen Diskurses ähnliche Fragen zu stellen. Erneut geht es um die Trugbilder, die Selbsttäuschungen und Paradoxien, die dann entstehen, wenn der Kapitalismus Kultur und Lebensstil wird. Im Vergleich zur Nachkriegszeit hat sich die Totalität einer kapitalistischen Lebensform immens ausgedehnt. Verstanden die Düsseldorfer Aktionskünstler ihr Motto noch als sarkastischen Gegenpol zum nicht minder verschmähten »sozialistischen Realismus«, so weist der Kapitalismus der Gegenwart eine globale Präsenz und Unausweichlichkeit auf, die in den 1960er Jahren kaum vorstellbar war. Die »innere Landnahme« der Gesellschaft durch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche lässt den Maximen wirtschaftlicher Konkurrenz scheinbar allumfassende Geltung zukommen. Bisherige Grenzen zwischen Ökonomie und Lebensform brechen ein. Personen wird angeraten, sich vorwiegend als Wirtschaftssubjekte zu verstehen. In den Künsten nicht weniger als in der Ethik stellt es sich als zunehmend schwierig dar, noch Unterscheidungen zum Ökonomischen zu treffen, seit Kunstmärkte Spekulationsbörsen gleichen und Unternehmensethiken sich als moralisches Universum missverstehen.
In der Ringvorlesung geht es zum einen um einen rekonstruktiv-analytischen Zugang: Wie sieht der »kapitalistische Realismus« von heute in der Ethik, Ästhetik und Ökonomie der Gegenwart aus? Wie genau ist er entstanden, wie funktioniert er, wie wirkt er sich aus? Überdies ist aber auch die Inspektion von Bruchstellen, von Gegensätzlichkeiten und paradoxen Interventionen von Interesse: Wo liegen die Grenzen des »kapitalistischer Realismus« in Kunst und Kultur, Ethik und Moral, Ökonomie und Arbeit, Leben und Subjektivität? Wo verwandelt sich »kapitalistischer Realismus« in etwas, das nicht beabsichtigt oder vorhersehbar war?